Eine Geschichte zum Nikolaustag

Vietnamesisch

Ich musste früher in der Schule das Märchen von Hans Christian Andersen in der französischen Fassung „La petite fille aux allumettes“ lesen. Es erzählte die tragische Geschichte eines kleinen Mädchens, das am Silvesterabend frierend auf der Straße Schwefelhölzchen verkauft. Niemand beachtet sie. Die mit ihren Feiertagsbesorgungen beschäftigten Bürger übersehen das Kind und seine Bettelwaren. Verzweifelt vor Kälte zündet das Mädchen die Streichhölzchen an. Im Lichtschein des Hölzchens fühlt sie sich, als würde sie an einem warmen Ofen sitzen, der Gänsebraten auf den feierlich gedeckten Tisch neben einem funkelnd geschmückten Tannenbaum. Schließlich begegnet es seiner Großmutter und bittet diese, es in den Himmel mitzunehmen.

Damals las ich aus „Zwang“. Pflichtlektür, vom Lehrer „aufs Auge gedrückt“. Ich fand die Geschichte nicht so spannend wie „Aschenputtel“, die zum Glück ihren verlorenen Schuh doch wieder fand. Vor allem konnte ich die eisige Winterkälte überhaupt nicht nachempfinden, denn das Kälteste von Saigon ist eine kühle Brise in der Regenzeit. Ich habe auch nie jemanden gesehen, der nur Streichhölzer verkaufte, vielleicht zusammen mit einer Schachtel Zigaretten der in den 60-70er Jahren in Saigon sehr beliebten Marken Salem, Bastos …

Dann ging ich nach Deutschland, lernte das Pfeifen des Windes an der Nordsee kennen, verstand die Bedeutung von „eisig kalt“, fühlte die Einsamkeit und Heimweh am Silvester. Eines Weihnachtsabends kuschelte ich mich unter der warmen Decke und lies „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“. Ich wünschte, ich könnte ihr eine Schachtel Streichholz abkaufen oder ihr ein Glas heiße Schokolade oder ein belegtes Brötchen anbieten. Dann setzte ich mich mit ihr in die Ecke eines alten Fachwerkhauses. Ich erzählte ihr von meiner Heimat, ein Ort so weit weg, dass sie ihn nicht mal in ihrer tiefsten Phantasie sich vorstellen kann. Dort gibt es kein Straßenhändler, der Streichhölzer anbietet, aber es gibt Kinder, die auf der Straße Lottorielose verkaufen. Sie sehen aus wie sie: klein, lumpig. Sie guckte mich mit ihren vor Erstaunen weit aufgerissenen schmaragdgrünen Augen an und fragte:
– Wenn niemand die Lottorielose kauft, verbrennen die Kinder sie auch, um in ihre Träume zu gleiten?

Ich bin nicht Andersen. Seine Geschichte berührt nicht nur Millionen Herzen auf der ganzen Welt, sondern ist in der Weihnachtszeit zur Pflichtlektür geworden. Eltern und Lehrer erzählen sie, in der Hoffnung, ihre Sprößlinge zu braven Kindern, musterhaften Schülern, trauten Freunden, zu Menschen mit guten Eigenschaften zu erziehen. Wenn sie brav sind und gute Taten vollbringen, werden sie vom Weihnachtsmann reichlich belohnt:
– Es gibt immer Menschen, denen es schlechter als dir geht. Sei barmzherzig, mein Kind!

Ich bin mir nicht sicher, seit wann meine allerliebste Tochter auf der ganzen Welt erkannt hat, dass der Weihnachtsmann nicht durch den Schornstein kommen konnte, denn unser Haus hat eine Zentralheizung, das Wasser wird mit Gas geheizt, und die Wärme wird anschließend durch ein Rohrsystem auf die einzelnen Zimmer verteilt.
Aber bis zum Teenageralter (ab „thirteen“) war meine allerliebste Tochter auf der ganzen Welt immer noch fasziniert von Walt Disney, Pixar Filmen mit dem Weihnachtsmann, der Jahr für Jahr auf seinen Renntierschlitten steigt, um seine Geschenke zu verteilen. Mit offenen Mund verfolgte sie in „Der Polarexpress“ das Abenteuer von dem Jungen ohne Namen bei seiner Reise zum Nordpol, wo angeblich der Weihnachtsmann wohnt.
Der Film endet damit, dass der Junge die Glocke findet, die ihm der Weihnachtsmann geschenkt hat, bevor er den Nordpol verlässt. Nur er kann den rasselnden Geräusch des Glöckchens hören. Dem Jungen ist klar, dass die Existenz des Weihnachtsmanns von seinem eigenen Glauben an Weihnachten abhängt.

Ich bin Walt Disney, Pixar und … Andersen sehr dankbar. Ohne sie hätte meine allerliebste Tochter auf der ganzen Welt nie an den Weihnachtsmann geglaubt, nie an Wunder geglaubt, die in diesem Leben geschehen könnten. Und das ist das Traurigste einer Kindheit. Weil Glaube Hoffnung sät. Und wo Hoffnung gibt, können Bemühungen zum Erfolg führen, wie der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker einmal sagte: „Die Hoffnung führt uns weiter als die Angst“.

Der Film „Der Polarexpress“ dauert etwa anderthalb Stunden, der 3D-Animationsfilm „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“(hier zu sehen) ist ca 9,5 Minuten lang.

Ich wünsche den Leser ein frohes Weihnachtsfest.

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